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Beitrag vom 22.03.2012
SILJE NERGAARD - Unclouded
AVIVA-Redaktion
Das neue Album der norwegischen Sängerin ist ein sensibler Weg zurück zu ihren Wurzeln. Die Grenzen zwischen Jazz und Pop sind ebenso flexibel wie empfindlich. Wer sie ...
... auf falschem Fuß überschreitet, droht auf unwegsamem Gelände zu verschwinden.
Die norwegische Sängerin Silje Nergaard war schon immer eine überaus sensible Grenzgängerin. Doch es ging ihr nie um die programmatische Überschreitung von Demarkationslinien, sondern immer um ein lebendiges Verhältnis zu ihrer ungewöhnlich sanften und doch eindringlichen Stimme. So auch auf ihrer neuen CD "Unclouded".
Wer Silje Nergaard kennt, wird von "Unclouded" überrascht sein. Das Timbre der Norwegerin klingt vertraut, alles andere ist komplett neu. Sie lässt sich nur von zwei Gitarren begleiten, die auch mal verhalten perkussiv eingesetzt werden können, kein Schlagzeug, keine Keyboards. Doch was wie ein krasser Bruch mit ihrer Vergangenheit klingt, ist in Wirklichkeit ein Bekenntnis zu ihren Wurzeln. Schon als Kind lauschte sie der Gitarre ihres Vaters. Sie versuchte sich selbst auf dem Instrument, bis sie als Jugendliche entdeckte, was ihm alles innewohnt. Am Anfang ihrer Laufbahn trat sie meist nur mit zwei Begleitern auf, einer davon in der Regel ein Gitarrist. Und sie fühlte sich großartig. Zu diesem Gefühl zurückzukehren, war für die inzwischen weltbekannte Sängerin ein langer Reifeprozess: "Diese Veränderung zeichnete sich seit Jahren in meinem Kopf ab, während ich mich äußerlich noch mit anderen Dingen beschäftigte. Irgendwann begann ich die Offenheit und Spontaneität jener frühen Jahre zu vermissen. Ich sehnte mich nach dem Raum, den ich damals als Sängerin und Geschichtenerzählerin hatte. An diesen Punkt wollte ich wieder zurückkehren."
Die beiden Gitarristen Hallgrim Bratberg und Havar Bendiksen sind viel mehr als bloße Begleiter. Sie sind Mitverschworene, deren Saitengesang mit der Stimme der Sängerin zu einem einzigen Klanggedicht verschmilzt. Bevor sich die Norwegerin zu diesem Projekt entschloss, hatte sie mit beiden Gitarristen separat schon viele Erfahrungen gesammelt, nur gemeinsam hatten sie noch nie gespielt. "Ich habe lange überlegt, mit wem ich das Projekt umsetzen will, denn er muss eine starke Persönlichkeit und trotzdem ein großes Herz haben. Als ich mich für diese beiden Jungs entschied, wusste ich sofort, dass es die richtige Entscheidung war. Gleich bei unserem ersten gemeinsamen Treffen fühlte es sich intim und organisch an. Ich spürte, wir sind Seelenverwandte."
In dieser Umgebung fiel es der erfahrenen Vokalistin nicht schwer, sich in einer Art vokalem Spiegel neu zu entdecken. Sie staunte, wie einfach es sein kann zu singen. Der Albumtitel "Unclouded" gibt sehr poetisch jene kindliche Unbeschwertheit wieder, mit der mensch einfach so zu singen anfängt. Silje Nergaard besann sich auf die Vielfalt und den Nuancenreichtum ihres vertrautesten Werkzeugs, der Stimme. Zwischen den Gitarren fühlte sie sich so geborgen wie in ihrer Kindheit. "Wir haben gemeinsam eine überaus starke Chemie, gerade so, als würden wir auf dieselbe Weise atmen. In diesem Trio treten wir nun schon seit zwei Jahren live auf und hatten somit Gelegenheit, intensiv am Sound und der Interaktion der Gruppe zu arbeiten. In dieser Zeit haben wir einen Klang entwickelt, der nicht produziert klingt, weil er nicht produziert ist."
Die neuen Songs von Silje Nergaard klingen federleicht, obwohl sie allen Beteiligten zu jeder Sekunde volle Konzentration abverlangen. Weder sie selbst noch die beiden Gitarristen lassen nur für einen einzigen Moment ihre außerordentliche Virtuosität heraushängen. Es geht immer um den Song. Ihre Lieder selbst haben sich gar nicht so sehr verändert, denn Silje Nergaard schreibt sie nach wie vor am Klavier. Sie sei keine gute Pianistin, sagt sie: "aber ein gutes Lied muss auf dem Piano funktionieren. Wenn ich es auf meine plumpe Weise auf dem Klavier spiele, funktioniert es auch in jedem denkbaren Kontext, egal ob es ein Orchester oder eine einzige Gitarre ist. Ein Song ist für mich immer ein Song."
Und was sie da für Songs auf ihrer neuen CD hat. Zum Beispiel das mächtige Opus "Norwegian Boatsong". "Unbewusst habe ich einen Song mit keltischem Flair komponiert. Er klingt wie ein schottisches Seemannslied. Mein Texter Mike McGurk ist Schotte. Normalerweise schlage ich die Titel zu meinen Songs vor, aber diesmal war es anders. Da ist eine gewisse Mystik in diesem Lied von einem Mädchen, das unter dem nebeligen Himmel treibt und nicht weiß, wohin." Doch da ist auch ein indischer Einschlag, denn der Bluesgitarrist Knut Reiersrud, der hier gastiert, hatte sich kurz zuvor in Indien eine zweisaitige Gitarre gekauft, mit der er den Song auf besondere Weise koloriert. So kommen in einem einzigen Lied keltische, nordische und indische Einflüsse zusammen.
Andere Lieder handeln von ganz alltäglichen Themen oder den großen Fragen der Menschheit. Meist singt sie Englisch, doch in "Det Var For Sent" greift sie auf ihre Muttersprache zurück. In "All I Had" schmiegt sich NilsPetter Molvaer in den Song, in "God´s Mistakes" zaubert John Scofield. Überraschend ist auch ihre poetische Version des Killers-Klassikers "Human". Ihr Verhältnis zum Jazz definiert sie in jedem Lied neu. Vielleicht enthält diese Platte weniger Jazz als irgend eine CD, die zuvor unter dem Namen Silje Nergaard erschienen ist, aber aufgrund der großen Offenheit und des endlosen Raums für Nuancen bedeutet weniger Jazz hier zugleich mehr Jazz. "Genres sind mir eigentlich total egal", bekennt die Norwegerin. "Jazz ist für mich ein Synonym für verspielt und offen. Mir ging es immer um meinen eigenen Klang. Und in diesem Klang passiert eben ganz viel. Manches mag jazziger sein als anderes. Auf der neuen CD übersetzt sich Jazz wahrscheinlich am meisten in Poesie."
Mit "Unclouded" wagt Silje Nergaard einen kompletten Neuanfang und bleibt doch ganz bei sich selbst. Ein bewegendes Album, das in seiner ergreifenden Offenheit perfekt in unsere Zeit passt.
SILJE NERGAARD
"Unclouded"
SONY MUSIC
VÖ: 23. März 2012
Mehr Infos unter:
www.siljenergaard.com
Das Video zum Cover-Song "Human" unter:
www.titanfilm.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Silje Nergaard – Darkness out of blue
(Quelle: SONY MUSIC, Wolf Kampmann)